Wir alle sind durch die Taufe zu König:innen, Prophet:innen und Priester:innen berufen. Sich der Berufung zur Prophetin zu nähern, ist nicht einfach. Da fällt der Blick zunächst mal auf die Prophet:innen des Alten Testamentes. Dort finden sich Ordens- und Genossenschaftsprophet:innen, die sich als Prophetenjünger:innen um eine herausragende Gestalt gruppieren. Durch Ekstase, durch Tanz stellten sie den Kontakt zu Gott her. Ihre Aufgabe war die Verkündigung von Gottessprüchen und Heil.
Die Tempel- oder Kultprophet:innen standen im Dienst der Könige und der Politik. Samuel ist ein Beispiel hierfür.
Die freien, oppositionellen Einzelprophet:innen sind zwar zahlenmäßig die kleinste, aber gleichzeitig die wirkungsgeschichtlich bedeutendste Gruppe. Sie wurden aus ihrem Umfeld herausgerufen und zu oppositionellen Kritiker:innen der Gesellschaft. Sie mussten oftmals Spott, Hohn und sogar Verfolgung ertragen. Ein Prophet ist zugleich Mahner und Heilsverkünder, der dem Volk Gottes Worte überbringt, der durch ihn spricht.
Und dazu sind wir also alle berufen? Eine schwierige Aufgabe, der sich der Prophet Jona zunächst verweigert. Eine Aufgabe, die Elija an die Grenzen seiner Kraft führte, als er am Berg Horeb (1 Kön 19) sein Leben an Gott zurückgeben möchte. Der Prophet Amos hielt den Mächtigen den Spiegel vor, die ein gesellschaftliches System auf Kosten der Armen und der Menschen am Rande der Gesellschaft etabliert hatten. Gerade die Worte des Propheten Amos erinnern mich zutiefst an die Situation, die wir auch heute wieder haben. Es würde den Rahmen dieses Monatsbriefes sprengen, wenn ich in größeren Umfang aus dem Buch Amos zitieren würde. Aber im Buch Amos zu lesen lohnt sich.
Und heute? Gibt es die Prophet:innen im biblischen Sinne immer noch? Ich glaube, in dieser biblischen Ausprägung sicher nicht mehr. Während in der biblischen Zeit politische und religiöse Macht verschränkt waren, haben wir heute eine Trennung von Staat und Kirche.
Gleichwohl leben wir in Zeiten des Umbruchs und der Transformation und diese Zeit erfordert mutige Menschen, die als Mahner:innen auftreten, die neue Ideen in die Gesellschaft bringen. Diese sind zwar keine Prophet:innen im biblischen Sinne, stehen für mich aber in deren Tradition. Und wenn ich mich in diese Tradition rufen lassen oder stellen soll, fühle ich mich manchmal genauso überfordert wie manch biblischer Prophet.
In Zeiten der großen Transformation, in der wir heute leben, gilt es den Wandel anzustoßen, zu begleiten, zu inspirieren und vielleicht auch anzuführen. Diese Transformation bezieht sich bei Weitem nicht nur auf den Klimawandel, sondern auch auf die Gesellschaft und die Wirtschaft sowie auf die Kirche. Das gesamte System des Lebens und des Zusammenlebens steht auf dem Prüfstand und muss sich wandeln. Und alle Getauften mit der Berufung zu Prophet:innen mittendrin.
Bis vor kurzem fühlte ich mich recht hilflos, wenn ich mich diesem Anspruch zu stellen versucht habe. Zu übermächtig schien mir die Aufgabe und bisweilen war ich schon erschöpft, bevor ich überhaupt begonnen hatte, mich einzubringen. Lesen und mich informieren ist noch einfach, aber machen? Wo ist da ein Anfang?
Sehr geholfen hat mir dabei das Hintergrundpapier „Transformation gestalten lernen“ der Organisation Germanwatch:
In diesem Papier wird das Two-Loop-Model, basierend auf der Theory of Change des Berkana Institutes, vorgestellt. Plötzlich wurde mir klar, dass ich nicht alles können und machen muss, wenn ich den Auftrag spüre mich an Wandelprozessen zu beteiligen. Der Wandelprozess gliedert sich vielmehr in mehrere Aufgaben, die alle die gleiche Wichtigkeit haben. Der Wandel wird nur erfolgreich sein, wenn es verschiedene Menschen gibt, die verschiedene Rollen innerhalb des Wandelprozesses ausfüllen. Es reicht nicht aus, wenn alle nur die eine Aufgabe ausfüllen.
„Innovator:innen sind Menschen, die bereits, während das alte System noch der Standard ist, in lokalen Nischen an und in neuen Organisations-, Wirtschafts- und Lebensweisen arbeiten, als Pionier:innen Neues erproben und vorangehen.
Die Pfadfinder:innen suchen Wege, wie die neuen Innovationen durch Veränderungen in den Rahmenbedingungen und Strukturen zum neuen, einfacheren, standardmäßigen und naheliegenden „Normal“ und somit zu begehbaren Pfaden für die Mehrheit werden können. Es geht auch darum, Verknüpfungen zu schaffen zwischen Innovator:innen vor Ort und an unterschiedlichen Orten, damit die Nischen stärker werden und zusammenwachsen.
Die Illuminator:innen machen Städte/Kommunen oder einzelne Veränderungen bekannt, in denen bereits ein neuer nachhaltigerer und friedlicherer Standard Realität geworden ist. Sie halten die Vision, die den Wandel leitet, hoch, um sowohl die Menschen, die gerade in Veränderungsprozessen auf energieraubende Hindernisse stoßen, als auch jene, die sich noch nicht trauen, das Alte loszulassen, zu ermutigen.
Die Bewahrer:innen gehen in den Dialog mit Menschen, die sich die Alternativen zum aktuellen System noch nicht vorstellen können, die Angst davor haben, Bekanntes loszulassen oder besorgt sind, durch Veränderungen vor allem etwas zu verlieren und diese Veränderungen daher eher aufhalten wollen. Sie helfen dabei, Altes loszulassen, aber zeigen auch auf, dass es auch positive Aspekte der alten Lebensform geben kann, die es lohnt, ins neue System zu übertragen und zu bewahren.
Die Begleiter:innen des Strukturwandels widmen sich den Teilen des alten Systems, die nicht ins neue System überführt werden können, weil sie dort keinen Platz mehr haben. Sie honorieren die Leistungen dieser Teilsysteme, die in der Vergangenheit sinnvoll waren, aber nun im neuen System nicht mehr passen. Eine wichtige Aufgabe der Begleiter:innen des Strukturwandels ist es, das würdevolle Abschiednehmen von diesen Teilsystemen zu gestalten und ein angemessenes Gedenken zu ermöglichen, wie zum Beispiel die Einrichtung eines zeitgeschichtlichen Museums.
Die Brückenbauer:innen sind ebenfalls mit Nachzügler:innen in Kontakt und zeigen ihnen, dass sie und ihre Sorgen gehört werden. Sie zeigen ihnen außerdem auf, was der Wandel alles an Positivem bereithält und wie sie auch in den neuen Organisations-, Wirtschafts- und Lebensweisen glücklich sein und ihre Bedürfnisse vielleicht noch besser erfüllen können – ohne anderes zu zerstören. Sie helfen Nachzügler:innen beim „Umzug“ in das neue System, indem sie neue Wege, Abkürzungen und Brücken dorthin schaffen.“
Und plötzlich kam bei mir so etwas wie Aufatmen. Ich muss nicht alles tun und am besten gleichzeitig. Es reicht aus herauszufinden, welche Aufgabe ich am besten ausfüllen kann. Habe ich Stärken als Bewahrer:in oder als Begleiter:in des Strukturwandels oder gehöre ich zu den Brückenbauer:innen. Kann ich als Innovator:in oder Pfadfinder:in vorweg gehen oder bin ich gut darin, Innovationen ins rechte Licht zu rücken.
Und plötzlich tun sich Menschen zusammen und gehen im Team weiter. Ein offenbar tiefes menschliches Bedürfnis, wie einige Menschen des Franziskuskreises beim letzten spirituellen Wochenende erfahren konnten. Nicht dem Jeder-gegen-Jede gehört die Zukunft, sondern den gelebten Gemeinschaften, im Kleinen wie im Großen.
Dann müssen Prophet:innen zwar immer noch vorweggehen und sich angreifbar machen, aber sie können sich gegenseitig stärken und ermutigen, wenn eine Aufgabe sie findet, wenn sie einen Auftrag verspüren. Sich finden lassen und suchen und dann handeln ist unsere Aufgabe. Davon bin ich zutiefst überzeugt.
Thomas Griese
Herzlichen Dank an Germanwatch für die Erlaubnis, die Abbildung und deren kursiv gedruckte Erläuterungen abzudrucken.