Weitergezwitschert …tierisch franziskanisch (6)
Der junge Franziskus stand am Tresen des Stoffwarenladens seines Vaters in Assisi, im Hintergrund lief Weihnachtsmusik. Er drehte sie etwas lauter auf, denn gerade lief sein Lieblingslied: Rudolph, the Red-Nosed Reindeer.
„Immer dieser amerikanische Kitsch“, sagte ein Paketbote mit kaltroter Nase, der schwerbeladen das Geschäft betrat. „Sag nichts Falsches“, scherzte Franziskus und nahm dem Boten die Pakete ab. „Kennst Du überhaupt die Geschichte dahinter?“. „Nein, und ich habe definitiv auch keine Zeit, sie mir anzuhören. Ich muss bis zum Feierabend noch 150 Pakete ausliefern, und das bei der Kälte!“. „Ein Knochenjob“, sagte Franziskus und blickte durch das Fenster auf den zerbeulten weißen Karren des Paketboten. „Musst Du noch über den Monte Subasio heute?“. „Ja, und dort oben ist heute Schnee gefallen“, sagte der Bote zerknirscht und schaute auf die abgefahrenen Reifen seines Karrens. „Du weißt ja, wie es in dieser Jahreszeit ist. Alle bestellen sich bequem mit einem Klick ihre Weihnachtsgeschenke und ich kann die Paketmassen kaum bewältigen“.
Franziskus wusste um die schlechten Arbeitsbedingungen der Paketboten. Ohne sie würde das ganze Handelssystem nicht funktionieren und doch bekamen viele von ihnen noch nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn.
In diesem ungewöhnlich kalten Winter hatte Franziskus schon mehrmals Ärger mit seinem Vater bekommen, weil er ihnen aus dem Geschäft kostenlos warme Stoffe und Polster mitgegeben hatte. „Ich schenke Dir meinen Walkman“, sagte Franziskus. „Mit Musik geht alles besser“. Er überreichte dem Boten das Päckchen und blickte ihm mit einem schelmischen Blick hinterher.
Franziskus, Rudolph und der Paketbote
Und als er später im Halbdunkel in Richtung des Monte Subasio blickte, war es ihm, als sähe er einen Schlitten hinaufgleiten, gezogen von zwölf Rentieren, vorneweg eines mit leuchtend roter Nase. Und er zog sein altes Kinderbuch aus dem Regal und las die Geschichte von Rudolph, dem rotnasigen Rentier, zum gefühlt hundertsten Mal.
Rudolph – das war ein kleines neugieriges Rentier, das vor Aufregung immer eine glühend rote Nase bekam und deswegen von seinen Altersgenossen ausgelacht und gehänselt wurde. Doch an einem nebligen Heiligabend wendete sich das Blatt: Der Weihnachtsmann bat ihn, seinen Schlitten durch die Nacht zu ziehen und ihm mit seiner roten Nase den Weg zu leuchten. So erreichten die vielen Pakete auf dem Schlitten die Kinder noch pünktlich zum Fest. Aus dem Außenseiter wurde ein allseits respektiertes Rentier.
„Vielleicht gefällt ihm das Lied ja doch und er verzeiht mir, dass es auf dem Walkman in Dauerschleife läuft“, schmunzelte Franziskus.
Angela Selter
Unter dem Titel „Weitergezwitschert“ wollen wir im franziskanischen Sinne Mitgeschöpfe aus unserer Umwelt in den Blick nehmen und unsere Beobachtungen mit Randbemerkungen zum Weltgeschehen anreichern. Die Beiträge erscheinen auch regelmäßig im Monatsbrief.
Folgende Beiträge sind bereits in dieser Rubrik erschienen: