Das Gipfeltreffen der Pferde

Weitergezwitschert …tierisch franziskanisch (10)

Gipfeltreffen der Pferde auf dem Monte Subasio. Das Einhorn machte mit wichtiger Miene den Versuch, Protokoll zu führen. Doch es missglückte, wie in jedem Jahr, denn allzu trubelig ging es einher. Immerhin war es ihm gelungen, eine Liste der Teilnehmenden aufzustellen, auf der nun viele illustre Namen standen. „Wie schön, Dich wiederzusehen!“, „Du hast Dich ja gar nicht verändert!“, „Ach, wie das Jahr wieder verflogen ist!“ – Die Luft schwirrte vor Wiedersehensfreude und Begrüßungsgewieher. „Cooles Outfit, Kleiner Onkel!“ „Danke, Iltschi!“ Sie juchzten und jagten, galoppierten und grasten, wieherten und weideten, und als sich am Ende des Tages die Sonne zur Erde neigte, versammelten sich alle um ein großes Lagerfeuer. Einige erschienen geschniegelt und gestriegelt, andere lässig und locker – ganze nach dem Motto: Jeder und jede so, wie es ihm gefällt. Auf diesen Dresscode hatte Kleiner Onkel schon vor Jahren bestanden.

Das Einhorn räusperte sich: „Also, schauen wir mal auf die Termine im kommenden Jahr. Aha, der Franziskuskreis kommt uns wieder besuchen.“ Es schob die Lesebrille tief auf seine lange Nase und blickte über den Brillenrand in die Runde. „Ist es denn schon wieder 5 Jahre her, dass die hier waren?“. „Ja, fürwahr, das war 2018“, sagte ein Pferd, das, soweit man zurückdenken konnte, jedes Jahr zur Versammlung gekommen war, dessen Namen aber niemand kannte. Es wirkte edel und weise, hielt sich meist vornehm zurück, war aber offenbar reich an Lebenserfahrung. Wer ihm nur einmal in die Augen gesehen hatte, konnte die Tiefe seines Blicks nie wieder vergessen.

„Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie in San Stefano musiziert haben“, sagte Iltschi mit verträumtem Blick. „Und ich weiß noch, wie sie im Klostergarten von San Damiano alle wie Bäume in der Gegend rumstanden!“, warf Jolly Jumper ein und schüttelte sich vor Lachen. „Ich“, sagte das namenlose Pferd, „kann mich wie heute der Abschlussrunde entsinnen. Alle waren ersucht worden, ihre wertvollste Erinnerung der Woche mit den anderen zu teilen. Eine Dame sagte: ‚Für mich war das Schönste die Freiheit der Pferde‘. Diesen Satz habe ich tief in meinem Herzen bewahrt.“ Die anderen verharrten einen Augenblick in respektvoller Stille. Einige bemerkten den melancholischen Blick in den Augen des namenlosen Pferdes.

In seinen Gedanken war er viele Jahrhunderte zurückgereist. Er sah ein Bildnis seiner selbst als junges Pferd, auf seinem Rücken einen stolzen Ritter, den Sohn des reichsten Tuchhändlers weit und breit. Wie mutig, wie zuversichtlich waren sie in den Krieg gegen Perugia gezogen. Wie gebrochen, wie geschlagen waren sie nach der Gefangenschaft zurückgekehrt, dem Kalender nach nur wenige Monate älter, aber innerlich um Jahre gealtert. „Die Freiheit“, sagte das Pferd, „ist ein hehres Gut. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass sie niemals etwas Selbstverständliches ist.“

Angela Selter

Beitragsfoto: Angela Selter


Unter dem Titel „Weitergezwitschert“ wollen wir im franziskanischen Sinne Mitgeschöpfe aus unserer Umwelt in den Blick nehmen und unsere Beobachtungen mit Randbemerkungen zum Weltgeschehen anreichern. Die Beiträge erscheinen auch regelmäßig im Monatsbrief.
Folgende Beiträge sind bereits in dieser Rubrik erschienen: