Die Pinatubo-Maus

Weitergezwitschert …tierisch franziskanisch (8)

Die Maus kam zu spät zur Psychotherapie. Mitgenommen sah sie aus, die Nase verrußt, das Fell glanzlos und zottelig. Das Messingtürschild „F. Bernadone“ schimmerte träge in der Sonne und die Maus spürte sogleich, wie eine innere Ruhe bei ihr einkehrte. Als sie das Haus eine Stunde später wieder verließ, setzte sie die Sonnenbrille auf und wollte dem Chauffeur Mitteilung geben, dass sie nun wieder abholbereit sei. Einem inneren Impuls folgend steckte sie das Handy aber wieder in die Tasche und ließ den Blick über die weitläufige Landschaft schweifen. Sie beschloss, einen Spaziergang zu machen und ihre Termine Termine sein zu lassen.

„Wie fühlt es sich an, wenn Du Bücher signierst und Interviews gibst?“, hatte Bernadone gefragt. „Was macht es mit Dir, wenn Du von den Vulkanausbrüchen auf La Palma hörst?“. „Alles easy“, hatte die Maus zunächst geantwortet, doch dann hatte sie von der Schlaflosigkeit, den Panikattacken, der Kurzatmigkeit erzählt. Die Bilder von La Palma verfolgten sie jede Nacht bis frühmorgens in die blaue Stunde. Sie erinnerten sie an die vernichtende Kraft des Feuers, die unaufhaltsamen, glutroten Lavamassen und den Schweif der Ödnis, den der sengende Strom nach sich zog – all das spielte sich dann vor ihrem inneren Auge ab.

Nun lag die umbrische Landschaft friedlich vor ihr und die Weite tat so gut. Etwas mit den Händen tun, hatte Bernadone geraten. Zögerlich hob die Maus einen Lehmklumpen von der Erde auf und begann zu formen und zu kneten und zu gestalten. Was da wuchs und entstand, ähnelte einem Selbstbildnis. „Sieht ja aus wie ich“, dachte die Maus. Mit jedem Handgriff floss innere Anspannung in die feuchte Masse. Mit einem kleinen Zweig ritzte die Maus noch einige Riefen und zwei Augen in das Gebilde, dann stellte sie es auf ein Mäuerchen und legte sich in den Schatten.

Alsbald kam ein Kind mit seiner Mutter daher, zeigte mit seinen kleinen Fingern auf den Lehmklumpen und sagte: „Löwe! Rooaarrr!“. Als die beiden sich wieder entfernt hatten, schaute sich die Maus das Gebilde noch einmal von allen Seiten an. Das Kind hatte recht gehabt, von einer Seite wirkte es wie ein brüllender Löwe. Die Maus seufzte. Überlebenskünstlerin hatte man sie genannt, stark wie eine Löwin, die dem Inferno entkam, allen Widrigkeiten zum Trotz. Alle schienen das in ihr zu sehen, doch ihrem eigenen Gefühl entsprach das nicht immer. Meistens fühlte sie sich klein. Klein wie ein Staubkorn, das durchs Universum wirbelt.

Sie konnte den ganzen Aufruhr um ihre Geschichte im Grunde gar nicht verstehen. Ja, sie hatten die Krise gemeistert, als der Vulkan ausgebrochen war und alle anderen Tierarten auf dem Berg vernichtetet hatte. Die Geschichte hatte Wellen geschlagen. Nun befand sie sich auf Europatournee, um ihr Buch vorzustellen und wurde gefeiert wie ein Popstar. Dennoch, meistens fühlte sie sich klein. Klein wie… nun, klein wie eine Maus.

Wie damals, gleich nach dem Ausbruch, als sie sich mit ihrer Mäusefamilie tief in ein Gestrüpp zurückgezogen hatte, das wundersamerweise vom Lavastrom verschont geblieben war. Geduld hatten sie gehabt und sich auf das Wesentliche konzentriert. Auf sonst nichts. Aus dem Wenigen das Meiste gemacht. Ausgeharrt. Festgestellt, wie wenig man eigentlich zum Leben braucht. Daraus neue Kraft geschöpft. Überlebt. Irgendwann wieder das umliegende Terrain zurückerobert und neue Lebensräume für die wachsende Familie gefunden.

Die Maus seufzte. Ja, diese Geschichte verdiente es weitererzählt zu werden, auch wenn es sie selbst viel Kraft kostete, die alten Bilder immer und immer wieder aufsteigen zu lassen. Doch wenn sie sah, wie ihre Erzählungen anderen Mut machten, schöpfte auch sie daraus neue Kraft.

Faktencheck

Im Jahr 1991 brach auf den Philippinen der Pinatubo aus – ein Vulkan, der jahrhundertelang geschlummert hatte und in dessen Gebiet sich eine üppige Flora und Fauna entwickelt hatte. In einer der gewaltigsten Eruptionen des 20. Jahrhunderts wurden von einem Tag auf den anderen riesige Flächen vernichtet, Hunderte von Menschen starben. Nur einem kleinen Nagetier konnte die Katastrophe nichts anhaben: der Langnasen-Luzon-Waldmaus (Apomys sacobianus), auch bekannt als Pinatubo-Maus.

Anfang des 21. Jahrhunderts ging die Wissenschaft ging davon aus, dass die Pinatubo-Maus mit dem Ausbruch ausgestorben war. Um die Sache näher zu erforschen, stand nur noch ein einziges Exemplar zur Verfügung, das Forscher 1956 in einem Archiv hinterlegt hatten. So forschte man vor Ort nach und stellte zur großen Überraschung fest, dass die Pinatubo-Maus nicht nur überlebt hatte, sondern sogar das häufigste Nagetier in dem Gebiet war. Welche Strategien hatten der Spezies geholfen zu überleben? Die Wissenschaft geht davon aus, dass sie sich an die Bedingungen in dem lebensfeindlichen Habitat des Vulkans angepasst und auf diese Umgebung spezialisiert hatte. Somit wurde sie zum Survival-Spezialisten, was den Schluss nahelegt, dass ein ruhiges Umfeld nicht immer die optimalen Bedingungen für ein gelingendes Leben bietet.

Angela Selter

Beitragsfoto: “Mount Pinatubo, c2009” by buccino is licensed under CC BY-NC-ND 2.0


Unter dem Titel „Weitergezwitschert“ wollen wir im franziskanischen Sinne Mitgeschöpfe aus unserer Umwelt in den Blick nehmen und unsere Beobachtungen mit Randbemerkungen zum Weltgeschehen anreichern. Die Beiträge erscheinen auch regelmäßig im Monatsbrief.
Folgende Beiträge sind bereits in dieser Rubrik erschienen: